Kuratorin

Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst

Im Februar 2010 wurde das Pilotprojekt „Kunst fürs Dorf – Dörfer für Kunst“, das die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft in Kooperation mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern durchgeführt hatte, mit einer Festveranstaltung in Berlin erfolgreich abgeschlossen. Vom Januar bis Oktober 2009 hatten sich die Künstler/innen Leni Hoffmann, Rolf Wicker sowie Martin Keil und Henrik Mayer von der Reinigungsgesellschaft (RG) während eines längeren Arbeitsaufenthaltes in Mecklenburg-Vorpommern mit den ländlichen Räumen und den Menschen in den Gemeinden Ferdinandshof, Lelkendorf und Grambow künstlerisch auseinandergesetzt. Sie waren die ersten Teilnehmer des von der Stiftung Deutsche Kulturlandschaft bundesweit initiierten Projektes.

Seit ihrer Gründung verfolgt die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft das Ziel, durch die Förderung intakter sozialer und kultureller Strukturen das Leben und Arbeiten auf dem Lande zu stabilisieren und aufzuwerten. Mit dem Wettbewerb „Kunst aufs Dorf – Dörfer für Kunst“ will die Deutsche Stiftung Kulturlandschaft das spezifische Ereignis von Kunst in ländlichen Regionen fördern, wobei die Gemeinden ermutigt werden sollen, aktiv an diesem Prozess teilzunehmen. Dabei geht es nicht darum, ein Kunstwerk für den öffentlichen Raum anzuschaffen, sondern im Dialog mit den Künstlern zum „Teilhaber“ der künstlerischen Idee zu werden. Kunst soll in diesem Zusammenhang die Identität der Dorfbewohner stärken und nachhaltige Anstöße geben für ein bewusstes Leben miteinander. In einem Auswahlverfahren waren die Gemeinden Ferdinandshof, Lelkendorf und Grambow ausgewählt worden, die sich dann im Dezember 2008 aus einer Gruppe von sechs Künstlern jeweils ihren zukünftigen Gast ausgesucht hatten.

Orientierung mit Lichtreflexen

Die REINIGUNGSGESELLSCHAFT schuf gemeinsam mit Bewohnern der Gemeinde Grambow in Nordwestmecklenburg eine dauerhafte Installation im öffentlichen Raum. Dem voran gingen eine Umfrage, eine Situationsanalyse und eine Präsentationsrunde. Der Grundgedanke der Installation ist die Zukunftsvision des Dorfes im Jahre 2057. Welche Ziele sollen bis dahin verwirklicht sein? Welche neuen Herausforderungen wird es für das Leben in der Gemeinde geben? Unter dem Titel „Leitsystem zum Neuen“ entstanden Verkehrsschilder mit Piktogrammen, die u.a. Aussagen über Klimawandel, Infrastruktur, Bevölkerungsentwicklung und Arbeitsplatzperspektiven machen. Das Besondere: Die Schilder an der zentralen Bushaltestelle in Grambow besitzen die höchste Reflexionsklasse, die nur bei Verkehrsleitsystemen auf Autobahnen vorzufinden ist.

Bewohner als Mitspieler

Rolf Wickert schuf in Lelkendorf im Landkreis Güstrow vier Beobachtungsstände aus Holz, die sich auf den zweiten Blick als begehbare Skulpturen mit überraschend anderen Bestimmungen erweisen. Bei näherem Hinsehen werden aus einem profanen Holzstapel, einer weißen Torwand, einer banalen Anschlagstafel und einem alten Garagentor architektonische Treff- und Aussichtspunkte, in die man sich hineinbegeben kann. Durch eingefügte Schlitze und Löcher lässt sich die Umgebung unbeobachtet erkunden. In jedem Beobachtungsstand ist ein Buch ausgelegt, in dem verschiedene Statements oder Sprüche zu lesen sind, die Rolf Wicker während seiner Rundgänge, Besuche und Gespräche im Dorf über die Monate notiert hatte. Indem der Künstler in seinen „Bauwerken“ zum Verweilen einlädt, zum Lesen auffordert, auch Durchblicke oder Aussichten anbietet und den Betrachter als Mitspieler einbezieht, hat er nicht allein einen Körper mit Innenraum in das Dorf gesetzt, sondern die Perspektive umgedreht und mit Blick aus dem Körper heraus das Dorf als Raum thematisiert.

Kleinste Kunsthalle der Welt

Während seines Aufenthaltes in der Gemeinde erweiterte Rolf Wicker seine künstlerische Arbeit zusätzlich mit der Installation der TEMPORÄREN KUNSTHALLE LELKENDORF, in der fünf künstlerische Projekte verwirklicht wurden. Dafür baute er das ehemalige Pförtnerhäuschen des längst geschlossenen „Kreisbetriebes für Landtechnik” am Schlossweg  aus, ließ es vom Berliner Künstler Pfelder in eine überdimensionale Kiste für Kunsttransporte verpacken, von der Freiwilligen Feuerwehr von Lelkendorf wieder auspacken und lud die zum Teil auch international tätigen Künstler Rainer Ecke, Jörg Schlinke, Katja Pudor, Leni Hoffmann und Matthäus Thoma ein, sich mit ihrer Arbeit auf die besondere Situation in der kleinsten Kunsthalle der Welt einzulassen. Der Innenraum war nämlich nicht begehbar und die Besucher konnten nur durch die Scheiben in die Kunsthalle blicken. Mehr zum Kunstprojekt von Rolf Wicker in Lelkendorf.

Zufall und Spiegelungen in der Kunst

Leni Hoffmann bespielte in Ferdinandshof im Landkreis Uecker-Randow viermal nacheinander zwei Orte zum Thema „kort un wiet“ (nah und fern). Auf einer freien Backsteinwand am Postplatz brachte sie Großfotos mit Motiven an, die sie in und um Ferdinandshof aufgenommen hatte und die auf den ersten Blick banal erschienen. 200 Meter weiter, auf einer Holzwand an der Bushaltestelle vor der örtlichen Grundschule, zeigte sie großformatige Fotografien von entfernten Gegenden der Welt, die Leni Hoffmann der Gemeinde schenkte, die aber nicht weniger alltäglich wirkten. In der Beziehung zueinander, entstanden so besondere Bildräume, in denen gewöhnliche Orte entrückt und ferne Orte vertraut wurden.

Zum Abschluss ihres Arbeitsaufenthaltes veranstaltete Leni Hoffmann an drei aufeinander folgenden Tagen auf dem ehemaligen Gelände des Remontegutes eine Aluminiumschüttung über einen Holzstapel. Mehr zur Kunst von Leni Hoffmann in Ferdinandshof.

Über den Sinn des Lebens auf dem Land

Die Künstleraufenthalte in den drei Gemeinden liefen in sechs Monaten sehr unterschiedliche ab und ebenso verschiedenen fielen die Ergebnisse aus. Keiner der Künstler bediente aber die tradierten Vorstellungen von einem dauerhaften Werk, und schuf beispielsweise ein Gemälde oder eine Statue.
Da aber die Künstler von Beginn an die Menschen vor Ort mit in ihre Arbeit einbezogen und in regelmäßigen Abständen unmittelbare Einblicke in ihre künstlerische Sichtweisen gaben, setzten sich immer mehr Menschen mit Gegenwartskunst auseinander. In den Dörfern wurde diskutierte, ob das Kunst sei. Die einen hielten das Ganze für Unfug, gingen aber doch wenigstens mal gucken. Die anderen stritten über Kunst oder über den Künstler. Die wenigsten sagten, das sei Kunst, was da gerade passiere, aber sie fanden es interessant und waren neugierig. Und immer wieder stellte sich die Frage, was hat das mit uns zu tun und mit unserem Dorf?

Das, was an Kunst in ihrem Dorf vor sich ging, warf die Menschen auf sich selbst zurück, provozierte Fragen nach dem eigenen Dasein, an das eigene Tun und Lassen, die Wünsche und Träume. Die Auseinandersetzung mit Kunst, ist eine Form der Selbsterkenntnis und Identitätsfindung, weil sich die Menschen mit ihr an den eigenen und den gesellschaftlichen Idealen reiben.