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Übergang Overgang – Kulturbrücke über die Ostsee

Simone Tippach-Schneider: Textauszug aus dem Katalog

«Martin Andersen Nexö schrieb 1938 über den Himmel in Dänemark: „Andere Länder haben scharfe Konturen gegen einen Himmel, der mit seinem heftigen Blauen in weite Fernen rückt. Hier aber klafft kein Abgrund zwischen Himmel und Erde, der Raum schmiegt sich eng an die Erde an, mildert ihre Züge und nimmt ihr beinah den stofflichen Charakter. Alle Farben der Landschaft sind von dieser Umarmung betaut, jede Linie ist wie der leise Strich einer himmlischen Liebkosung.“

Die Ostsee ist auch ein Ort der Teilung und der Katastrophen. Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 und der deutschen Besetzung Dänemarks ohne Kriegserklärung 1940 dominierte eine politische Kluft zwischen den Ländern. Noch heute findet man in Gedser die Reste der von den Deutschen 1941 errichteten Flugabwehreinrichtung. Am Ende des zweiten Weltkrieges kamen auf der Ostsee über 10.000 Menschen ums Leben, als hunderte Schiffe mit Flüchtlingen, Soldaten und Häftlingen auf hoher See versenkt wurden. Und nach Kriegsende flüchteten Tausende von Ostdeutschen über die Ostsee in den Westen. Einige kamen bei dem Versuch ums Leben, aber viele schafften es bis zum dänischen Feuerschiff „Gedser  Rehe“ oder bis an den südlichen Strand von Falster. Bis 1989 war die Ostsee ein Meer der Teilung –  eine Region, die durch die Spannungen des Kalten Krieges zunehmend an die politische Peripherie Europas gedrängt wurde.

Die Ostsee wurde zu einem Symbol für die innere Zerrissenheit der modernen Menschen. Bei jeder Überfahrt erlebten sie den Übergang vom Küstengewässer zur Freiheit der Hohen See, wo das Meer von jedem Staatsgebilde frei ist, von Besetzern des Luft- und Seeraumes und kontrollierter Nachrichtenübermittlung. Bis heute überkommt dem Menschen angesichts der Weite des Meeres das Gefühl der Freiheit und Unendlichkeit. Das Offene ist nicht nur ein Ausdruck für die freie Landschaft, sondern das Offene ist das Losgelöst-Sein von aller Bedrückung und Beschränkung. Vor diesem und vor dem historischen Hintergrund erinnert jede Ostseeüberfahrt an den unversöhnlichen Gegensatz von Grenzerfahrung und Freiheitsgedanke.

Auch unsere Gegenwart ist nicht frei von dieser Dualität. Jährlich sind 1,5 Millionen Menschen von Rostock nach Gedser mit der Fähre unterwegs: Sommerfrischler, Reiselustige, Pendler und moderne Arbeitsnomaden. Neben Kisten, Koffern und Rucksäcken tragen sie Hoffnungen, Wünsche, Träume und manche Enttäuschungen im Gepäck. Sie haben sich auf den Weg gemacht, haben den Übergang gewagt, ihn zumindest probiert.

Es gibt oft Zeiten, da sind viele Plätze auf der Fähre unbesetzt. Was an der Küste noch als romantische Stille und Einsamkeit, als radikale Ablehnung der Zivilisation gewertet wird, kann auf der Fähre ins Gegenteil umschlagen. Diese Leere macht nachdenklich, weil sie auf „Nichts“ hinweist, auf das, was nicht möglich war und damit nie passieren wird. In seinem Buch „Die Passagiere der leeren Plätze“ berichtete Nexö über diesen Zwiespalt: „Sind einem erst einmal die Augen für die leeren Plätze geöffnet worden, ist es nicht leicht, sie wieder zu übersehen. Überall gähnen sie einem entgegen, und man kann es nicht unterlassen, sie mit all denen zu bevölkern, die zu Hause bleiben mussten – den verhängnisvollerweise Zurückgebliebenen. Der Gedanke an jene, die daheim bleiben mussten, kann einem die ganze Reisefreude nehmen; ob man will oder nicht, man schleppt sie mit sich herum und bevölkert die leeren Plätze mit ihnen. Eine Reise durch die schönsten Gegenden kann auf einen wirken, als hätte sie der Teufel selber arrangiert, wenn man an alle die denkt, die niemals irgendworan Anteil haben.“» (Martin Andersen Nexö, Die Passagiere der leeren Plätze, Berlin 1959)

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